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Adornos Negativität

Diskussion Part-2: 

Im Mittelpunkt unserer Diskussion über Pekićs Besnilo-Interview steht Peter E. Gordons „Prekäres Glück“, mit besonderem Augenmerk auf Adornos Glücksbegriff, die Kritik an Honneth sowie die Rolle der Ästhetik – alles verknüpft mit der Frage, warum diese Themen gerade für eine Gen-Z-Leserschaft von Bedeutung sind.

Peter E. Gordon »Prekäres Glück«

Was noch fehlt, ist die innere Temperatur des Arguments – der Punkt, an dem ein philosophischer Gedanke nicht mehr bloß Gedankenarbeit bleibt, sondern ins Leben greift. Peter E. Gordon liefert in Prekäres Glück nicht nur eine Rehabilitation Adornos, er beschreibt – vielleicht gegen seinen eigenen akademischen Instinkt – eine Haltung, die man üben kann. Das ist der rote Faden, den ich noch ergänzen möchte: Adorno als Schule des Hörens, des Sehens, des Aushaltens. Keine Heilslehre, kein Selbsthilfeprogramm, sondern eine Aufmerksamkeitspraxis, die Gen-Z in einer von Algorithmen gezähmten Gegenwart zurückerobern könnte.

Zunächst zum Nerv der Sache: Adornos berühmte Negativität ist keine Pose, sondern ein Sensorium. Sie misst die Welt am unterstellten Maß des Gelingens – und nennt es Glück, ohne je so zu tun, als hätte sie die Formel dafür. Dieser „emphatische Begriff“ ist nicht Anleitung, sondern Zumutung. Er verlangt, das, was weh tut, nicht zu umschreiben, sondern ernst zu nehmen; er verlangt, die Erfahrung nicht unter der Kategorie „privates Problem“ wegzusortieren, sondern als Symptom einer objektiven Schieflage zu lesen. Hier schließt sich der Kreis zu Gordons Grundthese: Normativität entsteht bei Adorno nicht, weil eine Autorität sie dekretierte, sondern weil Wirklichkeit – in ihrer Zumutung – Anspruch erhebt. Wer heute zwanzig ist und das unablässige Summen der Benachrichtigungen mit dem flauen Gefühl verwechselt, „dabei“ zu sein, weiß genau, was gemeint ist. Die Gegenwart drängt, und doch fehlt ihr oft die Wirklichkeit. Adorno lehrt, diese Lücke nicht mit Ersatzhandlungen zu füllen, sondern ihre Form zu studieren.

Man kann das „Materialismus“ nennen, aber der Ausdruck ist kälter, als die Sache ist. Gemeint ist jenes leibhaftige Moment, in dem Denken auf Realität stößt und nicht ausweichen kann. Adorno insistiert darauf, dass der Körper – der fühlende, verletzliche Körper – dem Geist vorausgeht. Leid ist nicht nur ein ethischer Prüfstein, es ist eine Erkenntniskategorie. Daraus folgt eine Ethik der Verwundbarkeit, die bei Gordon mit einer fein dosierten Pointe auftaucht: Verletzlichkeit ist kein Kult des Opferstatus, sondern die Minimalbedingung für die Erfahrung, dass es „anders sein soll“. Das sind große Worte, aber sie haben eine sehr konkrete Stoßrichtung. Gegen die Versuchung, alles in Diskurs und „Narrativ“ aufzulösen, hält Adorno daran fest, dass es eine Welt gibt, die uns in Anspruch nimmt, bevor wir sie deuten. Nicht jede Unruhe lässt sich beruhigen, indem man den Feed aktualisiert.

Wie also übt man diese Haltung? Bei Adorno lautet die Antwort oft: über Mimesis. Das klingt altmodisch und wird leicht missverstanden. Gemeint ist nicht Imitation, sondern eine zarte Kunst der Annäherung: sich der Sache so aussetzen, dass sie antworten kann. Man kann das mit dem Blick auf zeitgenössische Netzkulturen verbinden, ohne den Geist der Theorie zu verraten. Wenn Gen-Z Rohheit und „unpolierte“ Nähe dem Glanz der Oberfläche vorzieht, ist darin ein mimetischer Impuls am Werk: der Versuch, sich nicht durch Stilisierung zu panzern, sondern Kontakt zu halten – auch um den Preis, dass das Eigene nicht perfekt erscheint. Anders gesagt: Authentizität ist hier keine ästhetische Masche, sondern eine Fluchtlinie aus der Verhärtung. Adorno würde diesen Instinkt als Möglichkeit lesen, nicht als Schon-Erfüllung. Der Ernst beginnt erst, wenn man das Unfertige nicht als Stil verkauft, sondern als Risiko annimmt.

Darum führt jeder Pfad in Adornos Denken früher oder später in die Ästhetik. Nicht aus Flucht, sondern weil die Kunst die Werkstatt dieser mimetischen Disziplin ist. Adorno traut den Kunstwerken zu, jenes „Mehr“ an Sinn in sich zu speichern, das die Wirklichkeit verweigert. Es ist kein Zufall, dass er ausgerechnet an Bruchstellen – am Riss, im Schweigen, in der Dissonanz – den Modellfall für Erfahrung erkennt. Eine Dissonanz ist bei ihm kein Fehler, sondern die Signatur eines Weltbezugs, der weder beschwichtigt noch kapituliert. Für eine junge Generation, der alles stets als „Content“ begegnet, ist diese Unterscheidung heikel und heilsam zugleich. Ein Lied, das sich nicht gefügig macht; ein Bild, das nicht erklären will; ein Satz, der stehen bleibt, statt zu schließen – das sind keine Schrullen, es sind Übungen, den Reflex der schnellen Auflösung zu unterbinden. Der Unterschied zwischen einem Reiz und einer Erfahrung wird genau hier spürbar: Reize lassen uns in Ruhe, Erfahrungen verändern uns.

Gordon trägt diese Gedanken mit feiner Hand zusammen und rückt dabei eine Sprengladung ins Zentrum, die leicht überlesen wird: den Umschlag vom scheinbar Minimalen ins Maximale. Adornos „neuer kategorischer Imperativ“ – nie wieder Auschwitz – ist nicht die Ethik der Vermeidung, sondern die Ethik der Unmöglichmachung. Sie verlangt, die Voraussetzungen der Barbarei systematisch zu demontieren. Das ist nicht die Moral der großen Worte, sondern die Moral der kleinen Hebel: der Schule, die nicht dressiert, sondern bildet; der Institution, die nicht verwaltet, sondern schützt; der Sprache, die nicht verschleiert, sondern aufdeckt. In diesem Wechsel vom Negativum zur Maximalforderung liegt eine Lektion, die Generationen übergreift. Es genügt nicht, sich auf der richtigen Seite zu wähnen; man muss jene Mikropraktiken identifizieren, in denen sich die Blindheit der Normalität sedimentiert. Adorno nennt das „immanente Kritik“ – und er meint es wörtlich. Nicht außerhalb der Welt soll Maßstäblichkeit entstehen, sondern mitten in ihr, an den Punkten, wo etwas klemmt.

Ich sehe hier eine unerwartete Brücke zur Gegenwart der Zwanzigjährigen. Das Lebensgefühl der Prekarität – Verträge auf Zeit, Budgets auf Kante, Beziehungen in Schwebe – ist nicht nur sozialökonomisch, es ist ästhetisch. Man lebt auf Blickfang, nicht auf Blick. Wer gelernt hat, Aufmerksamkeit als Währung zu verdienen, erlebt jedes Innehalten als Verlustgeschäft. Adorno dreht den Fokus: Das Innehalten ist nicht Kostenstelle, sondern Erkenntniskanal. Ein Beethoven-Takt, der „beklemmt“ markiert ist, zwingt zu einer Art Atemlosigkeit, die nicht zur nächsten Pointe hastet, sondern ihre eigene Fraglichkeit hörbar macht. Ein Mahler-Ländler, der das Gesellige an den Rand des Lächerlichen schiebt, erinnert daran, dass die Harmonie nicht umsonst ist. Eine Berg-Dissonanz, die sich nicht auflöst, nimmt das Unversöhnte in Schutz. Wer das einmal erfahren hat, konsumiert Kultur nicht mehr als Beruhigung, sondern als Trainingsraum für Urteilskraft. Vielleicht ist das der eigentliche Sinn von Adornos berüchtigter Strenge: Nicht Hamilton, sondern Haltung; nicht Soundtrack, sondern Schule.

„Anerkennung“ – das Stichwort, mit dem Axel Honneth Adorno aus der vermeintlichen Sackgasse führen wollte – verklammert sich so, bei Gordon, mit der Negativität. Es ist eine produktive Spannung. Anerkennung ohne die Erfahrung der Verletzbarkeit erschöpft sich im Tausch von Gesten. Negativität ohne Anerkennung droht zum Stolz der Distanz zu werden. Adorno hält das Unvereinbare in Arbeit: den Anspruch des Leidens und den Anspruch des Anderen. Dass Gordon diese doppelte Bewegung auf den Begriff bringt, ist sein stiller Triumph über den Akademismus. Er zeigt Adorno nicht als „letzten großen Pessimisten“, sondern als ersten, der begriffen hat, dass die Moderne nur dann aushaltbar wird, wenn sie ihre Wunden nicht kaschiert, sondern artikuliert. Das ist kein Projekt für Feuilletons oder Seminare allein, es ist ein Projekt für Alltage.

Daraus folgt – und das ist der praktischste Teil eines unpraktischen Denkens – eine Pädagogik, die ihren Namen verdient. Man kann sie knapp umreißen: eine Schule der Wahrnehmung. Nicht mehr Stoffhubraum ist gefragt, sondern die Fähigkeit, Maß und Störung zu unterscheiden; das Unangemessene zu spüren, bevor es durch Statistik entschuldigt wird; die eigene Kränkbarkeit nicht als Schwäche, sondern als Sensor zu verstehen. Eine solche Pädagogik entlastet nicht, sie befähigt. Sie macht den Einsatz hoch – und nimmt gerade so die Panik heraus. Wer gelernt hat, einen Taktschlag zu hören, der kein Takt hält, verliert auch im sozialen Lärm weniger die Fassung. Wer verstanden hat, dass Glück sich nicht kommandieren lässt, aber sehr wohl vorbereiten, wird dem Drawdown der Aufmerksamkeit weniger ausgeliefert sein.

Am Ende steht die Frage, die Gen-Z – man verzeihe das Etikett – zurecht an jede ältere Theorie stellt: und nun? Die unsentimentale Antwort bei Adorno lautet nie: „Es wird gut“. Sie lautet: „Es soll gut werden – und wir halten das Soll aus.“ Genau darin besteht der unbequeme Trost, den Gordon freilegt. Er verspricht nichts, was er nicht halten kann. Aber er ruft etwas wach, das leicht verschüttet: die Bereitschaft, sich von der Wirklichkeit in Anspruch nehmen zu lassen, und die Lust, ihr nicht die letzten Worte zu lassen. Die Differenz zwischen diesen beiden Sätzen ist der Raum, in dem Kultur entstehen kann – und Politik.

Ich würde, wenn ich dürfte, an dieser Stelle eine kleine Hausaufgabe vorschlagen, die mit Adorno vereinbar ist, gerade weil sie bescheiden bleibt. Eine Woche lang jeden Tag zehn Minuten eine Musik hören, die nicht gefällig ist, und nicht nebenher. Ein Gedicht lesen, das nicht gefallen will, und nicht erklären. Einen Gang gehen, ohne das Telefon. Es klingt unerhört banal; es ist der Anfang jener Mimesis, die Adorno meint. Man tritt aus der Beherrschungslogik heraus, nicht indem man sie denunziert, sondern indem man sie für Augenblicke suspendiert. Das Ergebnis ist kein Glück auf Knopfdruck. Es ist etwas Kleineres und Größeres: Man lernt, die Welt anders zu adressieren. Wer das gelernt hat, wird die Zumutungen der Gegenwart nicht geringer finden. Aber er wird weniger bereit sein, sich ihnen zu beugen.

Vielleicht ist das der heimliche Untertitel von Prekäres Glück: eine Anleitung zum Nicht-Zerbrechen. Nicht durch Robustheit, sondern durch Resonanz. Nicht durch Zustimmung, sondern durch Urteil. Nicht durch die nächste Klarheit, sondern durch die Geduld, Unklarheit auszuhalten. Man kann das altmodisch finden. Oder man kann es, mit Adorno und Gordon, einfach versuchen. Die Welt wird dadurch nicht freundlicher. Aber sie wird, wie erhofft, wirklicher. Und das ist, so nüchtern wie pathetisch, die Bedingung jeder Hoffnung. 

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